Freitag, 29. März 2013

Der Zeisig

Die folgende Fabel zeigt, wie der Mensch häufig falsche Schlüsse zieht aus dem Äußeren. Das hat sich im Laufe der Zeit nicht geändert.

Können Sie sich davon ausschließen? Ich glaube fast, dass keiner es kann. Wie heißt doch auch ein bekanntes Sprichwort: "Kleider machen Leute." Haben nicht auch bei uns Menschen Sänger bzw. Sängerinnen mehr Chancen, bekannt zu werden und erfolgreich zu sein, die ein nettes Äußeres haben bzw. den Geschmack der jeweiligen Zeit treffen?

Doch nicht immer steckt hinter einer schönen Fassade auch ein kluger Kopf.

Der Zeisig. 

Ein Zeisig wars und eine Nachtigall,
Die einst zu gleicher Zeit vor Damons Fenster hingen.
Die Nachtigall fing an, ihr göttlich Lied zu singen.
Und Damons kleinem Sohn gefiel der süsse Schall
„Ach welcher singt von beiden doch so schön?
Den Vogel möcht ich wirklich sehn!"
Der Vater macht ihm diese Freude,
Er nimmt die Vögel gleich herein.
"Hier", spricht er, "sind sie alle beide;
Doch welcher wird der schöne Sänger seyn?
Getraust du dich, mir das zu sagen?"
Der Sohn läßt sich nicht zweymal fragen,
Schnell weist er auf den Zeisig hin;
"Der", spricht er, "muß es seyn, so wahr ich ehrlich bin.
Wie schön und gelb ist sein Gefieder!
Drum singt er auch so schöne Lieder;
Dem andern sieht mans gleich an seinen Federn an,
Daß er nichts kluges singen kann."

Sagt, ob man im gemeinen Leben Nicht oft,
wie dieser Knabe schließt?
Wem Farb und Kleid ein Ansehn geben.
Der hat Verstand, so dumm er ist.
Stax kömmt, und kaum ist Star erschienen;
So halt man ihn auch schon für klug.
Warum? Seht nur auf seine Minen,
Wie vortheilhaft ist jeder Zug!
Ein andrer hat zwar viel Geschicke;
Doch weil die Mine nichts verspricht;
So schließt man bey dem ersten Blicke,
Aus dem Gesicht, aus der Perücke,
Daß ihm Verstand und Witz gebricht.

Fabeln und Erzählungen: Bd. 1 Christian Fürchtegott Gellert, 1764

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen